Böblingen – ja. Was Stuttgarts Suburbs mit Japan in Konstanz zu schaffen haben, erschließt sich nicht auf den allerersten Blick. Aber wie in jeder Folge der Simpsons beginnt auch dieser Blogeintrag ganz anders, als er endet. Der Weg nach Böblingen lag also am gestrigen Abend ausgedruckt auf meinem Schoß, links neben mir der Mensch an meiner Seite. So fahren wir Richtung Nordwesten, um auf einem Rollenspielerfestival (jawohl) zu spielen. Zu spielen=Musik, wir=eigentlich nur Meiner und der Bandschlagzeuger auf dem Rücksitz. Sängerin und Gitarrist befinden sich bereits seit dem Vortag inmitten von Kutten-, Schwert- und des öfteren auch mal einiges an Kiloträgern. Es ist ein wunderschön sonniger Abend, im CD-Player drehen Muse ihre Runden und ich betrachte die Landschaft. Als bayerische Schwäbin hatte ich also mit dem Südwesten Baden-Württembergs noch nicht so viel Bekanntschaftsmöglichkeiten und erfreue mich an der gar lieblichen Szenerie: zahlreiche seltsam anmutende Berge, weniger klassisch dreieckig, denn vielmehr abgeflacht, wo sonst die Spitze ragt. Dies ist also mein erster Eindruck.
Der Mensch links von mir, aus ehrenamtlichen Gründen mit der heimischen Berglandschaft vertraut, klärt mich auf: Es handele sich halt um den Hegau, die Berge seien Vulkanschlote, der bekannteste unter ihnen der Hohentwiel, seines Zeichens treuer Namens-Gefährte der Stadt Singen. Mein Interesse an unscheinbaren Absurditäten und meine Kompetenz, Fragen zu stellen, die selbst in „1, 2 oder 3“ die Kindermenge geschlossen auf ein Feld hüpfen ließen, gehen eine nur semi-geschmeidige Koordination ein: „Aber was machen denn Vulkane hier? Ich mein, wir sind ja hier nicht in äh Japan.“ Die Vulkane seien entstanden durch den Oberrheingraben, im Laufe der Jahrmillionen dann hätte des Geologen Geliebte, die Erosion, ihr Werk getan und den eigentlichen Vulkan abgetragen und noch die Schlote stehen lassen. Ich bin fasziniert: Das erklärt auch diesen skurrilen Hohentwiel, den ich auf einer Zugfahrt nach Freiburg schon zur Kenntnis nahm, wie ein Schulkind gemustert wird, das in den absurdesten Batik-Klamotten die HipHopper-Klasse betritt – interessiert, aber skeptisch.
Und heut sitze ich vor der so guten wie wissenschaftlich zu verschmähenden Internet-Enzyklopädie, die wir alle kennen und erkundige mich tippenderweise nach dem Hegau und dem berühmtesten japanischen Vulkan, dem Fujiama, wie ich zunächst glaube. Doch flux weiter ich dank „weitergeleitet von Fujiama“ aufgeklärt, dass Japans höchster Berg eigentlich Fuji-san heißt. Dieser Vulkanberg liegt also 3 776 m müM auf Honshu. Und trotzdem, dass ich dank Albert Kümmels Wissenspraxis-Seminar vor allzu normativer Etymologie-Aufschlüsselung gewarnt bin, gebe ich jetzt wieder, was mir Wikipedia liefert: Der Fuji (Basalt-Gestein) heißt reicher Krieger, weil fu reich und ji Krieger bedeutet. Der Hohentwiel (868m müM, Phonolith-Gestein, einige andere der Hegauer Kegel sind ebenfalls aus Basalt), auf den ich mich jetzt konzentrieren will, heißt aus sehr viel profaneren Gründen Hohentwiel: Twiel stammt aus dem Keltischen (die Kelten besiedelten den Hegau in der Eisenzeit vom ca. achten bis zweiten Jahrhundert v. Chr.) und bedeutet „Fels“. Hoher Fels also – scheint, als wäre die Lyrik samt des äußeren Vulkans im Winde verweht. Vielleicht ist man im Allemanischen einfach weniger der schönen Kunst des Wortes zugetan als in Japan. Höchstwahrscheinlich aber ist ein schneebedeckter, symmetrisch ästhetischer Dreitausender doch musenfreundlicher als ein urdeutsch bewaldeter Steinkegel. Besonders in der japanischen Kunst wird der Fuji mit überbordender Aufmerksamkeit bedacht, mit Gemälden, Gedichten, Fotos, von denen man sich übrigens hier http://commons.wikimedia.org/wiki/Mt._Fuji an die Hand auf den Berg nehmen lassen kann.
Allerdings ergibt sich doch eine Paralle. Auf dem Hohentwiel befindet sich laut seiner Internetpräsenz mit mehr als neun Hektaren„die größte Burgruine“ Deutschlands. Eine Festung kriegerischen Hintergrunds. Der weitaus dandyhaftere Fuji ist auch militärisch belegt, dank seines bereits erwähnten Namens. Mehr oder weniger einzeln stehende Berge werden also, logischerweise dank der Übersichtlichkeit gerne militärisch belegt. Der Hohentwiel ließ sich schon zu mittelalterlichen Zeiten bezwingen, also krönte man ihn mit einer Burg. Beim Fuji gestaltet sich die Besteigung freilich schwieriger. So also hat man womöglich, kann man ihn schon nicht strategisch bebauen, ihn wenigstens feierlich-imposant getauft. Und: „Hontes“ rufen die Singener ihren Hausberg. Man hat ihn also doch lieb.
Sonderlich gefährlich ist der schöne Soldat übrigens nicht: Ihm wird nur ein geringes Ausbruchsrisiko attestiert (letztes Mal 1707).
Beide Vulkane bzw. Vulkanreste erliegen aber regelmäßig sommers Strömen erhitzter Touristen. Der Fuji ist nicht schwer zu besteigen, besonders prächtig scheint der Blick über den von der aufgehenden Sonne rotgülden bemalten Pazifik. Der Hohentwiel wird so angepriesen: „Belohnt wird der Aufstieg mit einem Blick über den gesamten Hegau zum nahegelegenen Bodensee und der Alpenkette.“ (http://www.hegau24.de/allgemein/hohentwiel.htm) Außerdem sollen sich auf der zum Naturschutzgebiet erklärten Erhebung biologisch Erbauliches finden.
Blick zum Bodensee oder Blick auf den Pazifik… egal, der Hohentwiel bietet Seines wenigstens direkt vor der Haustür an.
Blick vom Hohentwiel auf den Hegau
Blick vom Fuji auf den Pazifik
Was mir das alles also sagt? Japan ist in Süddeutschland, Süddeutschland ist in Japan, zumindest, was die Geologie angeht. Vielleicht hat der Hohentwiel gerade deswegen so imposant und doch seltsam fremdartig, wie in die Szenerie nachträglich hinein geschnitten auf mich gewirkt, weil wir Vulkane nur von Bildern kennen. Als Abbilder fremder Länder, wenigstens mehrere hundert Kilometer entfernt (der Etna in Italien beispielsweise). Ich erinnere mich an Dokumentationen, die ich in Kinderzeiten nachmittags aufschnappte und die mich schwer beeindruckt haben. Bilder von schwer fließender Lava, glühend heiß, unaufhaltsam, aufgestoßen von diesen riesigen Kegelbergen. Ein bisschen beängstigt hat mich das Ganze immer. Aber sie waren ja weit genug weg. Der Hohentwiel ist in der Nachbarschaft, steht dort einfach so rum, zwar kein richtiger Vulkan mehr, was vor zehn Millionen Jahren mal diese rote Masse war, in der Konsistenz von Kuchenteig, nur lebensauslöschend, ist jetzt grün bewaldet, birgt weltweit einmalige Mineralien und neuerdings chinesischen Lauch und wird von den ansässigen Alemannen geherzt. Und doch war er mal eines dieser fremdartigen Bergwesen, die eigentlich in meiner Vorstellungswelt in die Exotik Japans gehören. Oder, wissenschaftlicher ausgedrückt: Der Hohentwiel ist mein real gewordenes Simulakrum. Die Fernsehbilder aus meiner Kindheit waren, wie schon gesagt, immer nur Abbilder, Repräsentationen, damit auch Kopien des eigentlichen Geschehens. Dadurch, dass sie so fremd wirkten, hatten sie für mich keine reale Entsprechung, keine Referenz und waren eine 'Kopie ohne Original', wie es das Lexikon für 'Simulakrum' angibt (Nünning 2004). Unbedrohliche Simulakren. Der Hegau aber stellt mir das Original, oder zumindest ein Rudiment dessen, direkt vor Augen. Ich bin mit einer Realität konfrontiert, die ich für gar nicht existent gehalten hatte...
Ich fand die Fahrt durch den Hegau auf jeden Fall gar touristisch wertvoll, umringt von abendsonnenbeschienenen Ex-Vulkanen, deren Abbilder mit einem bisschen gutem Willen auch die Fernost-Seiten eines Sommereisekatalogs hätten eröffnen können. Und zwischendrin schwäbische Zwiebelkirchentürme, süddeutscher Barock.
Quellen: